„Wenn Corona uns jetzt nochmal erwischt, haben wir die passenden Instrumente in der Schublade.“
Die deutsch-südafrikanische Nichtregierungsorganisation Masifunde bietet normalerweise ganzheitliche Bildungsprogramme für Kinder und Jugendliche in Port Elizabeth, Südafrika an. In Zeiten von Corona mussten Gründer Jonas Schumacher und sein Team jedoch umdenken, um weiterhin wirksam zu sein. Sören hat mit Jonas darüber gesprochen, wie es Masifunde gelungen ist, innerhalb kürzester Zeit vom Bildungsanbieter zum Grundversorger zu werden und als Organisation an dieser Aufgabe zu wachsen.
Vor mehr als 15 Jahren gründete Jonas Schumacher mit südafrikanischen Freunden die Organisation Masifunde Learner Development in Walmer Township, Port Elizabeth. Seitdem hat sich Masifunde zum ganzheitlichen Anbieter für Bildungsprogramme etabliert. Neben Unterstützungsangeboten für die Schulen vor Ort und dem außerschulischen Programm „Learn4Life!“ betreibt Masifunde auch eine Talentfabrik mit Theatergruppe, Chor, Kunstgruppe und eigenem Café. Im Mittelpunkt der Arbeit steht immer, junge Menschen darin zu bestärken, Wissen und Erfahrungen zu sammeln und diese dann an ihr soziales Umfeld weiterzugeben. Als sogenannte „Changemaker“ sollen sie eine aktive Zivilgesellschaft fördern und positiven Wandel in ihre Gemeinschaft bringen. Masifunde berichtet im eigenen Podcast regelmäßig über die aktuelle Situation in Südafrika.
In unserem Gespräch lag der Fokus vor allem auf der Frage, wie es Masifunde als Organisation gelungen ist, in der Unsicherheit handlungsfähig zu bleiben und gestärkt ins nächste Jahr zu starten.
Sören Krüger: Lieber Jonas, noch immer hält Corona die Welt in Atem. Wie hast Du die Situation zu Beginn der Pandemie wahrgenommen?
Jonas Schumacher: Als sich das Virus Anfang des Jahres in Europa ausbreitete, war uns klar: Corona wird auch Südafrika erreichen. Völlig unklar war jedoch, welche Auswirkungen das für unser Land haben würde. Viele haben befürchtet, dass Südafrika am Rande eines Bürgerkrieges stehen könnte, weil der harte Lockdown mit Ausgangssperren und weiteren massiven Einschränkungen die soziale Ungleichheit und damit auch die Frustration in der Bevölkerung weiter verstärken könnten. Soweit ist es glücklicherweise nicht gekommen, aber die Situation ist und bleibt weiterhin angespannt.
Welche Auswirkungen hatte der Lockdown für die Menschen in Walmer Township, wo ihr aktiv seid?
Der Lockdown in Südafrika bedeutete, dass alle Menschen zuhause bleiben mussten. Lediglich das Erledigen von Einkäufen durch eine Person pro Haushalt war erlaubt. Gleichzeitig gab es ein Alkoholverbot und eine komplette Ausgangssperre in den Abendstunden und der Nacht. Niemand durfte auf der Straße sein, die Armee kontrollierte die Einhaltung der Regeln.
Viele Menschen haben in dieser Zeit ihren Job verloren. In Südafrika dominieren in den ärmeren Bevölkerungsteilen weiterhin Tagelöhner-Jobs den Arbeitsmarkt, die während des Lockdowns komplett weggebrochen sind. Für viele Familien in unserem Umfeld bedeutete das, dass ihnen die Lebensgrundlagen entzogen wurden. Hinzu kam, dass Familien, die eh schon in beengten Verhältnissen lebten, nahezu ununterbrochen auf wenigen Quadratmetern gemeinsam Zeit verbringen mussten.
Was bedeutete diese Situation für Eure Arbeit?
Uns ist recht schnell klar gewesen: Eigentlich geht es gerade mal nicht um Bildung. Es geht darum, die Kinder und Jugendlichen des Townships und unsere Mitarbeiter*innen in dieser Ausnahmesituation zu unterstützen.
Wie habt ihr das konkret gemacht?
Ein wesentlicher Bestandteil war die Einführung eines Frühwarnsystems. Jede*r Mitarbeiter*in hat 15-30 Kinder und Jugendlichen einmal pro Woche kontaktiert, um ein Gespür für die familiäre Situation zu bekommen. Wir haben unterschiedliche Indikatoren definiert, entlang derer wir sehr schnell erkennen konnten, ob beispielsweise Verdacht auf häusliche Gewalt oder Missbrauch vorliegt oder ob es schlicht an Essen für die gesamte Familie fehlt. Unsere Sozialarbeiter sind dann in die Familien und haben sich gekümmert. Das hat in Summe sehr gut funktioniert – auch in der Extremsituation waren wir mit den Menschen im Township, für die wir unsere Arbeit machen, stetig in Kontakt.
Wir haben versucht, zu Beginn der Pandemie positiv in die Community zu wirken: Wir wollten Ängste nehmen und Stigmatisierung vorbeugen. Wir haben Briefe an die Eltern geschrieben und die Kinder und Jugendlichen, die an unseren Programmen teilnehmen, über Corona informiert. Wir sind an die Schulen gegangen und haben dort Grundlagen geschaffen. Zum Beispiel waren wir die Ersten, die versucht haben, die Nutzung von Desinfektionsmittel einzuführen und für die Gefahren des Virus zu sensibilisieren.
Eure Arbeit lebt normalerweise davon, dass ihr mit Kindern und Jugendlichen in Gruppen vor Ort zusammenarbeitet – sei es in Trainings oder in Talentgruppen wie dem Chor oder der Kunstgruppe. All das war nicht mehr möglich. Wie seid ihr damit umgegangen?
Wir wollten auch unter veränderten Rahmenbedingungen etwas bewirken. Wir wollten den Kindern etwas mitgeben und dafür sorgen, dass sie weiterhin Impulse erhalten. Uns war wichtig, Mut zu machen und Positives zu zeigen. Allerdings mussten wir dafür neue Wege finden. Ich hatte einen guten Draht zur lokalen Fernsehanstalt. Ich habe die Fernsehmacher dafür gewinnen können, dass wir unsere Programme, die wir normalerweise face-to-face durchführen, in ein fernsehtaugliches Format packen – und sie es dann für uns ausstrahlen. Wir wussten: Viele Kinder sitzen gerade den ganzen Tag daheim in ihrer Blechhütte, ohne Zugang zu Bildung, ohne die Möglichkeit, auf digitale Lernangebote zurückzugreifen. Aber einen Fernseher hat nahezu jeder Haushalt in Südafrika.
Wie habt ihr das auf die Beine gestellt ohne TV-Vorerfahrung?
Von Null auf Hundert eine TV-Show zu produzieren, war eine echte Aufgabe! Plötzlich mussten wir überlegen, welche Inhalte unser Chorleiter beisteuern kann, wie unsere Theatergruppe trotz Lockdown kurze Beiträge erstellen kann oder wie unsere Kunstgruppe ihre Arbeiten aufbereiten kann.
Was uns geholfen hat, war die Tatsache, dass wir ein extrem gut funktionierendes Team sind. Unsere Mitarbeiter*innen haben bereits vor der Krise sehr eigenverantwortlich und selbstständig gearbeitet, haben immer kreative Wege in schwierigen Situationen gefunden – das hat uns sehr geholfen. Bei der TV-Show haben wir jedem Team-Mitglied gesagt: „Es kann sein, dass wir morgen bei dir drehen – also überleg dir, welche Inhalte du vermitteln möchtest.“ Da hat wirklich jede*r mit angepackt.
Ihr habt zu einem späteren Zeitpunkt auch selbst angebautes Gemüse und Lebensmittelspenden verteilt. Wie kam es dazu?
Wir wussten: Viele Menschen im Township haben Tagelöhner-Jobs, die im Lockdown wegfallen. Und: Viele haben für solche Situationen keine Rücklagen. Für diese Familien ging es damit ums Überleben. Ich bin dann erstmal in Aktivismus verfallen, wollte sofort allen helfen. Mein Team hat mich dann gebremst und hat empfohlen, entlang des Bedarfs punktuell zu agieren. Andere NGOs haben sehr früh sehr viele Marketing-Ressourcen in dieses Thema investiert und wie wild Spenden eingesammelt. Wir haben noch etwas gewartet, bis die Zahlen hochgingen und haben über unsere Arbeit lediglich gegenüber Spender*innen und Partnern informiert, ohne groß Panik zu machen. Schnell hatten wir genügend Unterstützer gewonnen, um denen zu helfen, die die Hilfe wirklich am nötigsten hatten.
Plötzlich war Masifunde nicht mehr Bildungsanbieter, sondern Grundversorger – welche Wirkung hatte das nach außen?
Das absolute Highlight war sicherlich, dass ganz Masifunde dieses Jahr den lokalen „Citizen of the Year Award“ der Stadt Port Elizabeth erhalten hat. Unsere Teamleistung wurde so sehr honoriert, dass jede*r Mitarbeiter*in sich nun „Bürger*in des Jahres“ nennen darf – das ist eine wahnsinnige Anerkennung für unsere Arbeit und den Beitrag, den jede*r Einzeln*e in den vergangenen Monaten geleistet hat. Aus einer solchen Krise mit einem solchen Erfolg rauszugehen, ist cool.
Wie hat sich die Situation auf Euer Miteinander ausgewirkt?
Natürlich war insbesondere die Anfangszeit von extremer Unsicherheit geprägt – das hat man auch an der Kommunikation gespürt. Es ging darum, Verständnis für die jeweilige Stimmung zu zeigen, auch der eigenen Unsicherheit Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig Sicherheit und Zutrauen für den weiteren Weg zu geben. Und trotzdem: Die Stimmung war zum Teil besser als zuvor. Das lag daran, dass jede*r die Chance hatte, etwas Neues auszuprobieren. Jede*r musste aus seiner Komfortzone heraus und hat das meist sehr dankbar angenommen. Plötzlich sahen sich zum Beispiel unsere Köchin oder unser Barista im Fernsehen wieder. Jede*r hatte neben den persönlichen Ängsten und Verlusten des Lockdowns, beruflich bei Masifunde sicherlich auch seine unvergesslichen Momente, die noch lange positiv in Erinnerung bleiben werden.
Wie seid ihr mit der Ungewissheit umgegangen?
Wir haben intern immer klar kommuniziert: Unsere Priorität liegt auf dem Team und der Organisation. Es ging darum, den Mitarbeiter*innen Sicherheit zu geben – dass sie ihren Job behalten und weiterhin ein festes Einkommen haben. In einem Land wie Südafrika ist diese Sicherheit in normalen Beschäftigungsverhältnissen gar nicht gegeben. Uns war wichtig, hier einen Gegenpol zu setzen. Und auch der der Gesundheitsschutz war wichtig. Wir haben immer deutlich gemacht: Wir gehen hier keine Risiken ein. Beide Punkte haben bei dem Team viel bewegt – das merke ich noch heute. In der gesamten Krise hat Masifunde keinen hängen lassen. Im Gegenzug war jede*r da, wenn sie*er gebraucht wurde.
Welche Stärken haben sich in der Krise gezeigt? Und welche Entwicklungspotenziale wurden sichtbar?
Ganz ehrlich: Wir hatten verdammt viel Glück. Vor der Krise hatten wir das erfolgreichste Jahr unserer Organisationshistorie. Auch das Team hatte bereits über einen längeren Zeitraum in dieser Konstellation zusammengearbeitet. Finanziell waren wir gut aufgestellt, unser Netzwerk war stabil. Kurz: Wir hatten gerade gar keine Probleme! Wir dachten: „Cool, so kann es jetzt weiter gehen!“ Und dann kam die Krise. Das hat uns erstmal hart getroffen.
Zu Beginn hat uns die Ungewissheit, wie es weiter geht, gelähmt. Und dann haben wir im Management-Team einen Kniff angewendet, der sich echt bewährt hat: Wir haben uns eine Deadline gesetzt: Die kommenden 2,5 Monate verhalten wir uns so, als wäre permanent ein harter Lockdown – egal was passiert. Wir planen jetzt für 2,5 Monate mit dem Worst Case. Das war im Nachhinein betrachtet der beste Schachzug: Plötzlich hatten wir Planungssicherheit in absoluter Ungewissheit. Bei vielen anderen Organisationen in unserem Umfeld habe ich beobachtet, dass die Ungewissheit zu dauerhafter Handlungsunfähigkeit geführt hat. Das Fahren auf Sicht und das Zerlegen des Unplanbaren in planbare Häppchen – das hat uns echt nach vorne gebracht. Damit haben wir Verbindlichkeit für die nächsten Schritte geschaffen. Diese Deadline war vor allem eine emotionale Sache – wenn sich die Rahmenbedingungen in dieser Zeit massiv verändert hätten, dann hätten wir natürlich auch früher reagieren können.
In deinen Schilderungen spielt das Handeln unter Ungewissheit immer wieder eine Rolle. In vielen Organisationen erleben wir diese Ungewissheit auch abseits von Corona, weil das Umfeld zunehmend komplexer und dynamischer wird. Was glaubst Du: Wie viel Ungewissheit kann man einer Organisation zumuten?
Ich weiß, dass viele Organisationen an der Ungewissheit in der Corona-Krise zugrunde gegangen sind. Wenn Du als Organisation mit internen Baustellen und ohne externes Netzwerk in eine solche Krise schlidderst, dann kannst Du alles verlieren und von Null beginnen. Wir wurden in einer organisationalen Phase von Corona getroffen, in der wir emotional gefestigt waren. Du musst deine Hausaufgaben vorher machen. Du kannst Dich nicht vorbereiten auf Krisen, aber Du kannst Deine Organisation resilient aufstellen – nach innen und nach außen. Ein stabiles Fundament musst Du dir in Phasen aufbauen, in denen keine Krise ist.
Das bedeutet, dass der Ballast, den eine Organisation mit sich herumschleppt, entscheidend für die Frage ist, wie widerstandsfähig sie in Krisenzeiten ist?
Definitiv. Ich würde die Metapher aufgreifen und sagen: So wie Corona vor allem für Menschen mit Risikogefährdung gefährlich ist, so gibt es auch Unternehmen, die zur Risikogruppe für Krisen zählen.
Was nehmt ihr aus der Krise mit? Was habt ihr gelernt?
Wir sind anders aufgestellt. Jede*r Einzelne übernimmt jetzt mehr Verantwortung für den Gesamterfolg – und das mit großer Freude und mit mehr Energie als jemals zuvor. Die Krise hat gezeigt, warum wir alle so froh sind, für Masifunde zu arbeiten. Wir sind eine lockere Organisation mit viel Vertrauen und einem klaren Blick auf die Wirksamkeit unserer Arbeit.
Auch unsere Arbeitskultur hat sich verändert – weniger Präsenz, mehr Vertrauen und Outcome-Orientierung in der Fläche. Uns geht es jetzt noch weniger darum, dass alle einen festen Zeitraum hier im Büro sind, sondern dass gute Ergebnisse erzielt werden.
Ich merke in unserem Gespräch aber auch: Wir sollten uns im Team nochmal zusammensetzen und diese wirklich herausfordernde Zeit gemeinsam reflektieren. Allein dieses Gespräch hilft mir persönlich, da in eine Klarheit zu kommen – das wird uns als Organisation sicherlich auch weiterbringen.
Vielen Dank für das Gespräch, Jonas!
Weitere Informationen findet Ihr auf www.masifunde.org und www.masifunde.de. Auch wir von covolution sind begeistert von der Arbeit, die Jonas und Masifunde in Südafrika und in Deutschland leisten. Deshalb verzichten wir in diesem Jahr auf kostspielige Weihnachtspräsente für Kunden und Partner und unterstützen Masifunde mit einer Spende.
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