Leadership in Corona-Zeiten und die Chancen für ein besseres Danach
Unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft stecken angesichts der Corona-Pandemie in einer manifesten Krise. Und schon immer boten Krisen auch Chancen für positive Veränderungen, weil stabile Systeme plötzlich herausgefordert sind, sich neu zu justieren. Mit der Veränderung der Systeme haben Menschen die Chance, schneller als sonst alte Muster zu überwinden, Neues zu integrieren und so aktiv Zukunft zu gestalten. Wir können die Corona-Krise also trotz ihrer zum Teil existentiellen Folgen auch als Chance nutzen. Doch damit das gelingt, ist gemeinsame Anstrengung notwendig.
Ein kurzer systemtheoretischer Einstieg: Jedes System — sei es in der Natur, sei es unsere Gesellschaft oder eine Organisation — strebt danach, sich selbst zu erhalten und zwar mit möglichst geringem Energieaufwand. Das bedeutet, dass Routinen und Selbstverständlichkeiten entwickelt werden, wie mit erwartbaren Umweltreizen umzugehen ist. Eine Krise ist aber kein erwartbarer Umweltreiz, da sich hier die Umfeldbedingungen in kürzester Zeit radikal verändern. Entsprechend sind bislang bewährte Routinen und Selbstverständlichkeiten nicht mehr hilfreich. Es muss neu gedacht und neu gehandelt werden. Und es müssen neue Formen der Zusammenarbeit entwickelt werden, um die anstehenden Herausforderungen zu lösen. Und genau darin liegt die Chance einer Krise.
Veranlasst durch einen Virus beobachten wir aktuell wie unter einem Brennglas das, was in den letzten Jahren mit VUCA umschrieben, aber nicht flächendeckend erlebt wurde. Viele Organisationen haben begonnen, anders über Führung und Zusammenarbeit nachzudenken. Sie haben die vielfach silohafte und auf Eigenoptimierung und Risikovermeidung ausgelegte Art der Zusammenarbeit auf ihre Tauglichkeit in einer immer dynamischeren, vernetzteren und komplexeren Welt hinterfragt. Aber es ist die Radikalität der Corona-Krise, die uns die Chance bietet, durch konkretes Erleben schneller und wirksamer zu lernen, wie Führung und Zusammenarbeit in Dynamik und Komplexität wirklich funktionieren können. Wir sind der Überzeugung, dass in unseren hochvernetzten Systemen Führung gemeinschaftlich gedacht und wahrgenommen werden sollte und sprechen deshalb von „Collaborative Leadership“.
Collaborative Leadership — gemeinsam in Führung und Verantwortung gehen
Das verstehen wir unter „Collaborative Leadership“: Collaboration ist ein Prozess, in dem Menschen eigenverantwortlich mit ihren unterschiedlichen Stärken und Potenzialen wirksam zusammenarbeiten und sich dabei Führung, Ressourcen, Risiken und Erfolge partnerschaftlich teilen. Und Führung meint zuerst einmal die organisationale Funktion, die Leistungsfähigkeit einer Organisation oder eines Systems aufrecht zu erhalten. Collaborative Leadership sichert demnach Leistungsfähigkeit in Dynamik, Komplexität oder in Krisen durch Orientierung entlang gemeinsam geteilter Ziele und zudem die aktive Nutzung aller Potenziale und Unterschiedlichkeit, um gemeinsam spürbaren Mehrwert zu generieren. Co-kreativ wird Neues gestaltet, Raum für kontinuierliches Lernen und Anpassen geschaffen. Ressourcen, Risiken und Erfolge werden partnerschaftlich geteilt.
Collaborative Leadership: Orientierung geben, Beziehung gestalten, Rahmen entwickeln
Was wir aktuell beobachten können, ist das intuitive Handeln entlang der drei Hauptfunktionen von Collaborative Leadership:
- Wir erleben aktuell in kaum dagewesenem Ausmaß gemeinsame Orientierung und Intentionsbildung. Alle Kräfte werden mobilisiert, um die Krise zu meistern. Die Menschen sind zu Zugeständnissen und Einschränkungen bereit, die bis vor wenigen Wochen undenkbar waren, weil sie nun ein gemeinsames Ziel haben: Flatten the curve. Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft spielen Hand in Hand, um dieses gemeinsame Ziel verständlich zu machen und zu erreichen. Destillerien und Chemieunternehmen stellen ihre Produktion quasi über Nacht auf Desinfektionsmittel um und Konkurrenten treten nun werblich #füreinander ein, wie zum Beispiel die Drogeriemärkte dm, Rossmann und Müller.
- Wir erleben gerade durch das Social Distancing wie bedeutsam menschliche Beziehungen sind. Das gewohnte tägliche Miteinander entfällt, evolutionsbiologisch sind wir aber auf Kooperation und soziales Miteinander angelegte Individuen. Wir erleben momentan, wie Beziehungen aktiv gestaltet werden — bestehende genauso wie neu entstehende — und wie Menschen die ihnen innewohnenden Potenziale entfalten, um ihren Beitrag zur Bewältigung der Krise zu leisten. So können wir beim Blick in die sozialen Medien täglich lesen wie in Co-Kreation Ideen zur gegenseitigen Unterstützung vorangetrieben werden. Wie in vermeintlicher sozialer Distanz gemeinsam Dinge auf den Weg gebracht werden, die radikal neu sind. So haben beispielsweise bei der Initiative #WirVsVirus über 43.000 Menschen online über 1.400 Lösungen für die unterschiedlichsten Lebensbereiche entwickelt. Aber auch Nachbarschaft rückt zusammen und unterstützt sich gegenseitig: Über Balkone hinweg wird gemeinsam musiziert und kollektiv Danke gesagt.
- Und schließlich wird an vielen Stellen der bislang bestehende organisationale oder rechtliche Rahmen weiterentwickelt und angepasst. Home Office — vor wenigen Wochen in vielen Bereichen noch undenkbar — ist für viele Menschen nun Alltag geworden. Prozesse werden verschlankt, Bypässe genutzt, neue Formen des Miteinanders gefunden. Milliardenkredite und -zuschüsse werden mobilisiert, das Mantra der schwarzen Null abgelöst. All das, weil wir es für zielführend erachten. Wir gestalten einen neuen Rahmen, der uns ermöglicht, in dieser ungewohnten Situation zu überleben und erfolgreich miteinander zu wirken.
Jeden Tag erleben wir, wie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft neue Initiativen starten und Maßnahmen vorantreiben, um Menschen zu schützen und die Wirtschaft zu stützen. Wir erleben, wie Menschen in ihrem Umfeld Verantwortung übernehmen und Aktivitäten initiieren. In Führung gehen — das wird gerade deutlich — kann jede und jeder, nicht nur die formal legitimierte Führungskraft. Wir haben alle das Potenzial, Colllaborative Leadership zu leben: Orientierung zu geben, Beziehungen aktiv zu gestalten, Potenziale zu entfalten und unseren jeweiligen Handlungsrahmen zu verändern und zu erweitern.
Was bedeutet das alles für unser heutiges und künftiges Miteinander?
Was bedeutet das alles für unser heutiges und künftiges Miteinander?
Jetzt in der Krise geht es zuvorderst um die Sicherung der Handlungsfähigkeit und um Antworten auf Fragen wie:
- Wie sichern wir unsere Gesundheit und unsere wirtschaftliche Überlebensfähigkeit — als Individuen, als Organisation, als Gesellschaft?
- Wie halten wir Motivation und Zuversicht hoch, angesichts der täglichen Nachrichtenmeldungen und der unklaren weiteren Entwicklung?
- Wie stellen wir sicher, dass wir auch über Distanz verbunden bleiben und an einem Strang ziehen?
Bereits das ist herausforderndes Führungshandwerk. Da geht es um Krisenkommunikation, um Fokus und Priorisierung, um Beziehungspflege und um die Sicherung der Leistungsfähigkeit von Individuen, unserer Unternehmen und unserer Volkswirtschaft. Hier ist jeder an seiner Stelle und viele sind gemeinsam gefordert.
Mit Blick auf die Zukunft müssen wir uns als Collaborative Leaders aber auch fragen:
- Was lernen wir heute über unser Miteinander, das für die Zukunft bedeutsam ist?
- Welche bisherigen Selbstverständlichkeiten und Routinen werden jetzt in der Krise sichtbar, die wir für die Zukunft hinterfragen müssen?
- Wie können wir uns heute auf die Zukunft vorbereiten und uns den dafür notwendigen Raum schaffen, nicht wissend wann und wie sich die Lage verändert?
- Wie erhalten wir das, was wir gemeinsam als richtig erkennen, für die Zeit nach der Krise als „New Normal“?
Hierauf kann sich jeder selbst Antworten geben. Wirkungsvoller sind wir jedoch, wenn wir gemeinsam Antworten suchen und finden. Denn diese Krise können wir nur dann als Chance zu einem nachhaltig veränderten Umgang mit Dynamik und Komplexität nutzen, wenn wir dem, was wir momentan individuell als wertvoll und richtig erkennen, eine gemeinsame Stimme und Bedeutung geben. Wenn wir Räume schaffen, an denen wir idiologiefrei reflektieren, was für die Zeit nach der akuten Krise erhaltenswert ist. Wenn wir zu einer gemeinsamen Orientierung für das New Normal nach Corona kommen und wenn wir und in der Konsequenz dafür eintreten, auch unseren Wirkrahmen zu erweitern: als Individuum, als Organisation, als Gesellschaft. Wenn wir also gemeinsam zu neuen systemstabilisierenden Selbstverständlichkeiten und Routinen kommen — das wäre ein wirkliches New Work und New Society abseits von vordergründigen Methoden und Artefakten.
Wir bei covolution haben in unserem Wirkrahmen Räume eingerichtet, um mit unseren Kunden, Partnern und weiteren Interessierten über die Konsequenzen der Krise für Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeiter*innen zu diskutieren und sie in ihrer Rolle als Collaborative Leaders zu stärken. Und wir freuen uns über alle, die Räume für den gesellschaftlichen Diskurs und gemeinschaftliches Lernen schaffen, wie zum Beispiel die Initiative Gaia von Otto Scharmer und dem Presencing Institute.
Lasst uns alles dafür tun, die aktuelle Krise zu bewältigen. Aber lasst uns auch gemeinsam alles dafür tun, dass wir gemeinsam ein besseres Danach gestalten und zu neuen Selbstverständlichkeiten im Miteinander kommen.
Ein paar Klassiker zum Weiterdenken
- Gerhard Wohland, Matthias Wiemeyer: Denkwerkzeuge der Höchstleister, Murmann-Verlag, 2007 (auch: https://dynamikrobust.com/)
- C. Otto Scharmer: Theorie U. Von der Zukunft her führen, Carl-Auer Verlag, 2011 (auch: https://www.presencing.org/)
- Peter M. Senge: The Fifth Discipline. The art and practice of the learning organization, Random House Business, 2006
- Joachim Bauer: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hoffmann und Kampe Verlag, 2006